Die Alben des Jahres 2022 von Gérard Otremba

Arctic Monkeys by Michael Zackary

Sounds & Books-Chefredakteur Gérard Otremba stellt seine Alben des Jahres 2022 vor

In meiner Liste der Alben des Jahres 2022 kommt es zu der großen Ausnahme von der Regel. Normalerweise versuchen wir unsere Reviews bei Sounds & Books möglichst nahe am physischen Veröffentlichungsdatum zu platzieren. Denn seien wir ehrlich, ein Album ist erst dann wirklich erschienen, wenn man es in den Händen halten kann. Nun meinte ausgerechnet meine zeitgenössische Lieblingsband Wilco ihr neues Werk zunächst digital und leider erst über ein halbes Jahr später, also am 20.01.2023 in haptischer Form herauszubringen. In diesem Fall halte ich mich allerdings an die Veröffentlichung meiner Review, die nun mal dieses Jahr erschienen ist. Ärgerlich ist es aber absolut und ich hoffe, es kommt zukünftig nicht mehr vor. Nun aber wünsche ich viel Vergnügen mit meinen

Alben des Jahres 2022 

1. Arctic Monkeys: The Car

Das bisher reifste und kompletteste Album der Arctic Monkeys. Geschmeidiger Soul trifft auf großen, cineastisch angelegten Pop samt Streicher- und Orchester-Arrangements. Und wenn ich in meiner Review schreibe, dass „The Car“ als eine Art „Revolver“ oder „Sgt. Pepper“ in die Karriere der Band aus Sheffield eingehen möge, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als diese wundervolle Platte an die Spitze meiner Alben des Jahres 2022 zu setzen. Beste Songs: „I Ain‘t Quite Where I Think I Am“, „Jet Skis On The Moat“ und „Body Paint“. (Beitragsbild: Arctic Monkeys by Michael Zackary)

2. Wilco: Cruel Country

Das Doppel-Album mit 21 Songs ist zweifellos ein Grower, wie der Kollege Werner Herpell in seiner Liste richtig schrieb, besitzt aber auch diverse sofort zündende Songs, die die Chicagoer Band um Jeff Tweedy mal wieder auf der Höhe ihrer Kunst zeigen. Songwriter-Folk, Beatles-Anleihen und Wilco-artiger County in herzzerreißend schönen Balladen. Wilco-Herz, was willst du mehr? Beste Songs: „Bird Without A Tail / Base Of My Skull“, „Tired Of Taking It Out On You“ und „All Across The World“.

3. Weyes Blood: And In The Darkness, Hearts Aglow

Natalie Mering, alias Weyes Blood, verzückt erneut mit einem betörenden Songwriter-Pop-Album mit prächtigen Melodien zwischen Beatles, Carole King, Joni Mitchell und den Carpenters. Damit bringt sie mein Herz definitiv zum Glühen und verdient sich den Platz auf dem Treppchen meiner Alben des Jahres 2022. Beste Songs: „Hearts Aglow“, „It’s Not Just Me, It’s Everybody“ und „Children Of The Empire“.

4. Jerry Leger: Nothing Pressing

Die Alben des kanadischen Songwriters werden immer besser. Den vorläufigen Höhepunkt markiert „Nothing Pressing“. Songwriter-Folk-Rock zwischen Springsteen, Dylan und Young der allerfeinsten Sorte. Beste Songs: „Kill It With Kidness“, „Recluse Revisions“ und „Have You Ever Been Happy?“

5. Tom Liwa: Eine andere Zeit   

Vierzehn Songs auf epischen 80 Minuten und alle famos. Tom Liwa wandelt mit seinen großartigen Geschichten stilsicher zwischen Blues, Rock, Folk und Country, zwischen Dylan, Morrison und Young. Und deshalb mein deutschsprachiges Lieblingsalbum des Jahres. Beste Songs: „Schon wieder Februar“ (mit Carolin Hennig), „Hunter“ und „April Scythe“ (mit Katharina Kollmann, aka Nichtseattle).

6. Pauls Jets: Jazzfest  

Das einzige Problem der Jets ist ja nur, noch nicht so bekannt zu sein wie Wanda und Bilderbuch. Musikalisch sind Pauls Jets aber die aufregendste und vielfältigste österreichische Band. Indie-Pop, Indie-Rock, Post-Punk, NDW, Art-Rock und ja, ähm, Jazz (also, nicht wirklich, aber hört einfach das Album). Selbstironie, Melancholie und Lebensfreude. Drittes formidable Album der Wiener Band mit der überragenden Zeile (eine von vielen überragenden Zeilen): „Wenn du traurig bist, dann geh nicht ins Büro“. Beste Songs: „Baby“, „Therapie“, „Jeder Freund“.

7. The Jazz Butcher: The Highest In The Land  

Das Vermächtnis des 2021 verstorbenen Pat Fish. Beste UK-Songwriter-Kunst zwischen Prefab Sprout und Edwyn Collins. Äußerst schade, dass da nichts mehr folgen wird. Beste Songs: „Time“, „Never Give Up“ und „Running On Fumes“.

8. Andrew Bird: Inside Problems

Mit seinem letzten Album „My Finest Work“ gewann Andrew Bird gar meine Jahresabrechnung 2019, diesmal reicht es noch relativ souverän für eine Top-Ten-Platzierung für den pizzicato-geigenden Songwriter aus Chicago. Immer noch ein lässiger, schräger, artifizieller und sehnsüchtiger Songwriter-Pop. Beste Songs: „Underwater, „Eight“, „Automized“.

9. Big Thief: Dragon New Warm Mountain I Believe In You    

Noch ein Doppel-Album in meiner Endjahresliste. Das amerikanische Quartett um Frontfrau Adrianne Lenker präsentiert uns zwanzig perfekt zwischen flirrendem Indie-Rock und sanft getragenem Indie-Folk austarierte Lieder. Beste Songs: „Change“, „Spud Infinity“ und „Certainty“.

10. Neil Young & Crazy Horse: World Record

Der Altmeister lässt seine verrückten Pferde los und schon rumpelt es herrlich in der Garage, Scheune und im Studio. Beißender Rock und sehnsüchtiger Folk, ein guter Mensch macht gute Musik. Beste Songs: „Chevrolet“, „Break The Chain“ und „I Walk With You“.

11. Bill Callahan: Ytilaer (Reality)

Erneut ein vortreffliches, zwischen Liebreiz und Verstörung wechselndes Album von Bill Callahan. Ein virtuoser Songwriter, der fast mit jedem Werk seinen Platz in der Liste meiner Alben des Jahres findet. Beste Songs: „Coyotes“, „Partition“ und „Lily“.

12. Bruce Springsteen: Only The Strong Survive

Ja, nur eine Cover-Album vom „Boss“, aber ein prächtiges. Eine ganz tiefe Verneigung vor dem Soul der Sixties und Seventies und eine superbe Liedauswahl vom Rock-Meister aus New Jersey. Beste Songs: „Only The Strong Survive“, „Do I Love You (Indeed I Do)“, und  „Don’t Play That Song“.

13. Tocotronic: Nie wieder Krieg 

Die Tocos schenken uns Liebe und Hoffnung und erneut ein richtig gutes Album mit strahlend schönen neuen Liedern. So kann das weitergehen im Tocotronic-Kosmos. Beste Songs: „Ich tauche auf“, „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ und „Crash“,

14. Elvis Costello & The Imposters: The Boy Named If

Der 67-jährige Brite kann irgendwie auch nichts mehr falsch machen und veröffentlicht nach „Look Now“ (2018) und „Hey Clockface“ (2020) das dritte vorzügliche Album in vier Jahren. Beste Songs: „Mr. Crescent“, „Paint The Red Rose Blue“ und „Magnificent Hurt“.

15. Julia Jacklin: Pre Pleasure

Die australische Songwriterin hält ihr Level auch auf dem dritten Album hoch. Mittlerweile der beste weibliche Songwriter-Indie-Pop-Rock aus Down Under. Beste Songs: „I Was Neon“, „Moviegoer“ und „Be Carfeful With Yourself“.

16. Husten: Aus allen Nähten    

Die Supergroup aus Gisbert zu Knyphausen, Moses Schneider und dem Dünnen Mann liefert nach einigen EPs ein wunderbares Debütalbum ab. Und dass Gisbert zu Knyphausen einer der besten deutschen Songwriter ist, steht ja sowieso außer Frage. Beste Songs: „Dasein“, „Manchmal träum ich von Träumen“ und „Maria“.

17. King Hannah: I’m Not Sorry, I Was Just Being Me

Die Liverpooler debütieren mit ihrem hypnotisch-betörenden Americana-Noir und man verfällt dem Sound nach der EP „Tell Me Your Mind And I’ll Tell You Mine“ erneut bereits nach den ersten Klängen. Beste Songs: „The Moods That I Get In“, „All Being Fine“ und „It’s Me And You, Kid“.

18. Belle And Sebastian: A Bit Of Previous

Fans der frühen Stunde mögen einwerfen, das sei bei Belle And Sebastian alles nicht mehr wie in den 90er-Jahren. Das stimmt natürlich, aber wunderschönen Indie-Pop machen die Schotten halt immer noch. Und auf „A Bit Of Previous“ einen so schönen wie seit 20 Jahren nicht mehr. Und weil Lieblinge seit den 90er-Jahren, findet dieses Werk natürlich einen Platz in der Liste meiner Alben des Jahres 2022. Beste Songs: „Young And Stupid“, „Prophets On Hold“ und „Come On Home“.

19. Die Sterne: Hallo Euphoria

Die Hamburger lassen nicht nach. Und Frank Spilker wird mit seiner Musik immer cooler. Beste Songs: „Gleich hinter Krefeld“, „Spilker immer mittendrin“ und „Wir wissen nichts“.

20. Malva: Das Grell in meinem Kopf

Im Sturm hat die 20-jährige Malva mit ihrem Indie-Kammer-Pop-Chanson-Folk mein Herz erobert. Diese Traurigkeit, diese Wehmut, diese Poesie, so, so schön. Beste Songs: „Kandierter Kummer“, „10:10“, und „Pieces And Shards (Full Range)“.  

21. Suede: Autofiction

Grenzenlose, weltumspannende Indie-Rock-Brit-Pop-Hymnen. So stark wie in ihres Glanzjahren in den 90ern. Beste Songs: „The Only Way I Can Love You“, „15 Again“ und „She Still Leans Me On“.

22. Father John Misty: Chloë And The Next 20th Century

Josh Tillman, alias Father John Misty schwelgt mal wieder auf die schönste Art in Nostalgie, wehmütig, sehnsüchtig und sentimental. Mit Musik aus fast vergessenen Tagen. Beste Songs: „Buddy’s Rendevous“, „Q4“ und „Goodbye Mr. Blue“.

23. Native Harrow: Old Kind Of Magic

Der Laurel-Canyon-inspirierte Folk-Rock des amerikanischen Duos ist seit geraumer Zeit offensichtlich gesetzt für meine Jahresbestenliste. Beste Songs: „Old Kind Of Magic“, „Heart Of Love“ und „As It Goes“.

24. Josh Rouse: Going Places

Der 50-jährige Amerikaner zeigt sich von seiner klassischen Songwriter-Seite. Folk, Folk-Rock, Songwriter-Pop, alles ganz filigran arrangiert und sehr zu Herzen gehend. Beste Songs: „Henry Millers’s Flat“, ,,Hollow Moon“ und „City Dog“.

25. Jetzt!: Können Lieder Freunde sein?

Das können sie. Und die von Michael Girke sowieso. Spät wird dem Vorreiter der Hamburger Schule Ehre zuteil, aber besser spät als nie. Und weil Michael Girke einer der wichtigsten deutschen Songwriter ist, beendet er mit seinem neuen Werk meine Liste der Alben der Jahres 2022. Beste Songs: „Rosa“, „Heute nicht, aber morgen wird alles gut“ und „Du und der Weg dahin“.  

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